Blanc de mémoire deutsche Übersetzung
von Samian

Man hat mich eingeschlossen in den Mauern der Scham.
Das ist der Beginn einer langen Geschichte und Gott weiß, dass es eine lange Geschichte ist.
Ich erzähle sie euch mit Bauchschmerzen, ich habe einen Kloß im Hals, wenn ich an das Internat zurückdenke.
Man hat mich ernährt so wie man einen Hund ernährt. Man hat mich vergewaltigt, mich behandelt als wäre ich nichts wert.
Ich bin sechs. Ich fühle mich allein und meine Familie fehlt mir und ihr, ihr schlagt mich, weil wir nicht dieselbe Sprache sprechen.
Ihr sagt mir ich sei halb Mensch, halb Tier.

Ihr sagt mir, ich habe dreckige Haut und spräche die Sprache des Teufels.
Ihr wollt aus mir einen weißen Jungen machen.
Wisset, dass ich vor Gott ich sein werde und ihr, ihr werdet an euren Taten gemessen.
Ich habe in diesen Mauern Kinder sterben sehen unter gleichgültigen Blicken.
Ich habe die Machtlosigkeit in den Augen unserer Eltern gesehen.
Bei ihnen waren wir frei in der Weite unserer Wälder.
Unserer Freiheit ist erloschen an dem Tag, als wir verstummt sind.


Man hat meine Kindheit geraubt, mein Dasein vernarbt, aber was mich am meisten zerstört hat ist die Rachsucht.
Man hat mir gesagt, dass echte Männer nicht weinen und dass ich stark bleiben muss.
Heute bin ich sechzehn und mein Körper hat nicht eine Träne geweint.
Ich schäme mich für das, was ich erlebt habe.
Obwohl es nicht meine Schuld ist.
Ich würde so gern die Zeit anhalten, um mich an eine Schulter anzulehnen.
So habe ich eine Welt in mir erschaffen, einen Panzer, der so dick ist, dass ein Monster in mir lebt.
Mir tut alles so weh, dass ich im Leichenschauhaus enden will.
Also flüchte ich mich in den Alkohol und die Drogen.
Warum? Warum so viel Leid, so viele schändliche Verbrechen?
Ich hadere mit der ganzen Welt, ich hadere mit eurem Gott.
Ich wünsche mir aufrichtig, dass er euch Vergebung schenkt.
Man hat kein Recht, einem Kind seine Religion aufzuzwingen.
Aber man hat mir auch gesagt, dass es Hoffnung gibt, solange es Leben gibt und dass ich eine Generation mit meiner Geschichte heilen könnte.
Heute bin ich dreißig und habe mein Leben wieder im Griff.
Es ist nicht immer einfach, aber ich gehe einen Tag nach dem anderen an.
Ich habe an die richtigen Türen geklopft und man hat mir die Hand gereicht.
Man hat mir den gleichen Gott vorgestellt, aber dieser war Liebe.
Er hat mir gesagt, dass ich ein Mensch bin und dass er mir eine zweite Chance schenkt.
Also habe ich meinen Teil getan und wieder Vertrauen gefasst.
Er hat mir gesagt, dass mein Volk heilen wird, unsere Vorfahren weiterziehen können.
Er hat meiner Seele eine Farbe gegeben und meinem Gesicht ein Lächeln.
Natürlich bin ich gealtert; zwangsläufig neigt sich mein Leben dem Ende zu.
Ich sage nicht, dass ich geheilt bin, aber meine Narbe schließt sich.
Ich bin ein Überlebender.
Ich habe einen langanhaltenden Sturm durchquert.

Ich werde bald sechzig und ich habe das Gefühl, neu geboren zu werden.
Selbst wenn ich eines Tages zur letzten großen Reise aufbrechen muss, werde ich diese Welt verlassen, wie ich gekommen bin: frei wie ein Wilder.
Ich erzähle diese Geschichte vermutlich zum letzten Mal.
Ich würde gern zu etwas anderem übergehen.
Blanc de mémoire